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13.07.21 –
Die Öffentlichkeit fragt sich immer lautstarker, warum in der EU und benachbarten Ländern der Ausbau der Atomenergie noch immer auf der politischen Agenda steht: in Tschechien, Ungarn, Polen, Slowakei, Ukraine, Türkei, Finnland, Großbritannien, Russland, Frankreich u.a.
Schließlich produziert die Atomenergie wesentlich teurer Strom als Erneuerbare Energien, und die Gefahr eines Supergaus oder Terroranschlags ist weiterhin hoch. Die Frage nach dem Atommüll-Endlager ist weiterhin ungeklärt, und noch immer werden beim Uranbergbau ganze Landstriche radioaktiv verseucht. Außerdem sind Atomkraftwerke die Quelle des waffenfähigen Urans für neue Atombomben.
Die USA hingegen verfolgen eine starke Entwicklung weg von der Atomenergie: 2021 wird in den USA mit 5 Abschaltungen von Atomkraftwerken ein neuer Rekord in Bezug auf die jährlichen Stilllegungen von Kernkraftwerken aller Zeiten aufgestellt – und das ganz ohne Atomausstiegsgesetz. Der Grund ist vielmehr ökonomische Vernunft. Insbesondere der Ausbau Erneuerbarer Energien, vor allem Solar- und Windkraft in Verbindung mit Batterien erzeugen verlässlicher und in vielen Fällen sogar kostengünstiger Strom selbst als abgeschriebene Atomkraftwerke.
Doch warum setzt sich diese ökonomische Kraft in der EU und angrenzenden Ländern nicht umfassend durch?
Zum einen stecken hinter der „zivilen“ Nutzung von Atomenergie häufig auch militärische Atomwaffenprogramme. Doch entscheidend ist Folgendes: In der EU existiert weiterhin der EURATOM-Vertrag aus dem Jahre 1957. Er hat das Ziel des Aufbaus einer mächtigen Atomindustrie. Viele Nachbarländer der EU sind assoziiert mit EURATOM. EURATOM war neben dem – längst aufgelösten – Kohle-Stahl Vertrag das Gründungsdokument für die EU. Noch heute ist EURATOM Primärrecht (ähnlich einer Verfassung) für die EU, gleichberechtigt dem Lissabon-Vertrag.
In den Verhandlungen zum Lissabonvertrag hatte sich der damalige Französische Präsident Jacques Chirac gegen den deutschen Verhandlungsführer, dem damaligen Vizekanzler Joschka Fischer, mit dem Erhalt des Vertrages durchgesetzt. Somit gibt es seitdem zwei gleichberechtigte „Grundgesetze“ der EU: den Lissabonvertrag (AEUV) zusammen mit dem Vertrag über die Europäische Union (EUV), die alle Rechte und Pflichten der EU in allen Politikbereichen beschreiben, sowie den EURATOM Vertrag, der die EU bindet, einen mächtigen Ausbau der Atomenergie zu schaffen.
Gerade in Diskussionen mit jungen, sehr engagierten Leuten z.B. von Fridays for Future, aber auch vielen älteren „Energieexpert*innen“ fällt mir auf, dass viele von ihnen keine Kenntnis über EURATOM haben; weder von der Existenz des Vertrages, geschweige denn von den unglaublichen Privilegien, die EURATOM der Atomwirtschaft und damit zu Lasten der Erneuerbaren Energien bietet. Erneuerbare Energien, die für den Klimaschutz essentiell sind, haben keinerlei solcher Rechtsgrundlagen. Nirgendwo gibt es auf der Ebene des EU-Rechts einen Vertrag, der den Ausbau der Erneuerbaren Energien so befördern würde, wie es EURATOM für die Atomenergie bietet. Dies erklärt, warum die EU-Kommission fast alles erlaubt, was Mitgliedstaaten als Unterstützung ihrer Atompläne planen.
So hatte die EU-Kommission, als Großbritannien noch Mitglied der EU war, dem britischen Atomkraftwerksneubau Hinkley Point eine unglaublich hohe Einspeisevergütung mit Inflationsausgleich genehmigt, wie sie es für Erneuerbare Energien niemals genehmigt hatte. Stattdessen behindert die EU-Kommission über die Beihilfeprüfungen ständig den Ausbau der Erneuerbaren Energien. Klar ist der Hintergrund: Der – zwar für den Klimaschutz notwendige – steile Ausbau der Erneuerbaren Energien würde einen Aufbau einer mächtigen Atomindustrie behindern, weil Atomkraft dann überflüssig würde. So wirkt EURATOM indirekt als massive Bremse für den Ausbau der Erneuerbaren Energien und ist auch damit kontraproduktiv für den Klimaschutz.
Es ist ein großer Verdienst der im österreichischen Salzburg angesiedelten NGO PLAGE (Plattform gegen Atomgefahren Salzburg), eine Studie veröffentlicht zu haben, die leicht lesbar und dennoch tiefgründig klar EURATOM erklärt. Der Autorin Julia Bohnert, mit abgeschlossenen Magister-Studien in Geographie und Kommunikationswissenschaft, ist damit ein Meisterwerk gelungen. Sie bringt Licht in die dunklen und der breiten Öffentlichkeit verborgenen Hintergründe des EURATOM Vertrages. Julia Bohnert erklärt genau die Rechtsgrundlagen, die historische Entstehung, die Demokratiedefizite, aber insbesondere die unglaublichen Privilegien, die EURATOM der Atomwirtschaft bietet. Es ist ein einzigartiges Dokument. Seit Jahrzehnten gibt es kein anderes mir bekanntes Dokument, welches so die der Öffentlichkeit meist verborgenen Hintergründe der Atomunterstützung auf EU-Ebene aufdeckt.
„Als Schutzvertrag für eine einzige und noch dazu hochriskante Nischenindustrie – die Atomindustrie – genießt der EURATOM-Vertrag als europäisches Primärrecht den gleichen Status wie die Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Abseits der europäischen Vergemeinschaftung begründet er eine eigene Rechtsordnung für die Atomindustrie. Das ist ein Skandal!“ Und damit nicht genug: „Der EURATOM-Vertrag hat im Schatten der Öffentlichkeit eine Sonderwirtschaftszone für die Atomindustrie etabliert und hält diese überhaupt am Leben. Er schützt sie vor demokratischer Kontrolle und Mitsprache und verhindert die adäquate Regulierung einer Nischenindustrie, die doch alle EU-Bürger und Bürgerinnen im Jetzt und in der Zukunft ganz essentiell bedroht.“
(Julia Bohnert, Autorin der Analyse)
Und weiter schreibt Bohnert auf der PLAGE-Website einleitend: „Die Europäische Atomgemeinschaft wird dieses Jahr 64 Jahre alt. Es ist höchste Zeit, den zugrunde liegenden EURATOM-Vertrag endlich zu entmachten und abzuschaffen! Der EURATOM-Vertrag existiert seit 1957 und ist ein Relikt der Frühphase europäischer Politik. Er ist wie ein lebender Dinosaurier, der völlig aus der Zeit fällt und (dennoch) sämtliche Fortschritte des EU-Rechts und der europäischen Integration schlagkräftig abwehrt. Atomkatastrophen wie Tschernobyl und Fukushima hat er überlebt. Grundlegenden Veränderungen auf energiepolitischer Ebene sowie in der gesellschaftspolitischen Akzeptanz von Atomenergie hielt er beharrlich stand. Im Verborgenen schlägt er Förderungs-, Schutz- und Auffangschneisen für die Atomindustrie. Bis heute spielt der Dinosaurier eine wesentliche Rolle in der Europäischen Energiepolitik und zieht machtwirksam seine Kreise zugunsten der Atomindustrie. Seit 1957: unverändert!“
Es ist bezeichnend, dass die Bundesregierung unter Kanzlerin Merkel zwar nach Fukushima getrieben von einer protestierenden Antiatombewegung einen deutschen Atomausstieg beschlossen hat, aber nie irgendwelche Aktivitäten zur Abschaffung von EURATOM ergriffen hat. Dabei bedrohen die maroden, uralten und deshalb besonders unsicheren sowie manchmal nur wenige Kilometer von der deutschen Grenze entfernten Atomkraftwerke in Belgien, Frankreich, Schweiz oder Tschechien die BundesbürgerInnen genauso wie die deutschen Atommeiler. Lediglich österreichische Regierungen haben in den letzten Jahrzehnten mehrfach Initiativen zur Abschaffung der EURATOM Privilegien ergriffen. Sie alle versandeten wirkungslos – wegen der mangelnden Unterstützung aus anderen EU-Ländern, insbesondere Deutschlands.
Diese EURATOM-Analyse der PLAGE muss zur Pflichtlektüre werden für alle, die ein Wort in der Energie- und damit in der Klimaschutzpolitik mitreden und entscheiden wollen. Wer – wie leider sehr viele Entscheidungsträger und Meinungsmacher – die Hintergründe, Inhalte und Wirkungen des EURATOM Vertrages nicht kennt, hat nur ein unzulängliches Bild über die energiepolitischen Hintergründe in der gesamten EU und darüber hinaus in vielen EU-Nachbarländern.
Es ist zu hoffen, dass diese Studie vielfältig bekannt wird und die Abschaffung von EURATOM nach 64 Jahren mit auf den Weg bringt. Der Status eines primärrechtlichen Schutzvertrages für die Atomindustrie (als exklusive Sonderwirtschaftszone parallel zum europäischen Energie-Binnenmarkt) sowie sämtliche daraus resultierenden Privilegien müssen aufgelöst werden.
Alle, die sich für Klimaschutz einsetzen, müssen wissen, dass diese in EURATOM primärrechtlich garantierten Privilegien für die Atomenergie letztendlich den Ausbau der Erneuerbare Energien massiv behindern und so auch den Klimaschutz.
Danke Julia Bohnert für diese herausragende und extrem wichtige Studie.
Hammelburg, den 13. Juli 2021
Ihr Hans-Josef Fell
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